Es erreichten mich in der letzten Zeit diverse Kommentare, teils – wie erwartet – dumme, teils nachdenkliche und auch solche, die zeigen, dass es nicht leicht ist, aus der patriarchalen Perspektive die Female choice als evolutionäres Faktum anzunehmen, und wenn doch, sich in die Konsequenzen aus ihr hineinzudenken. Kardinalfehler ist immer wieder, das monogame Paar als angeblich evolutionsbiologisch verankert einpassen zu wollen. Die Female choice folgt aber einer anderen Logik, die die ideologischen Fundamente des Patriarchats zum Einsturz bringt, auf denen eben die patriarchale Logik aufbaut. Solange noch Teile patriarchaler Logik im Hirn frei flottieren und nach Anschluss suchen, passieren Denkfehler.
Den folgenden Leserbrief möchte ich daher an dieser Stelle besprechen (der Autor möchte hier sicher nicht genannt werden; Schreibfehler unkorrigiert):
Sehr geehrte Frau Uhlmann!
Ich habe Ihre Ausführungen zur ‚female choice‘ gelesen.
Zwar denke ich, dass es so etwas wie eine ‚female choice‘ tatsächlich gibt und dass sie auch ausgeübt wird – jedoch grundsätzlich nur (einmalig), so lange es nicht um Fortpflanzung geht. Denn es macht die Sache nun mal vielfach komplizierter, wenn eine Frau Kinder von mehreren Männern hat; die jeweiligen Partner werden, begrenzte Ressourcen vorausgesetzt, doch ein immanentes Interesse daran haben, dass primär der von ihm abstammende Nachwuchs durch ihn versorgt wird.
Würde female choice dann bedeuten, dass bspw. bei einer Gruppe aus 20 Männer und 20 Frauen, diese Frauen jeweils nur mit zB 2 bestimmten Männern Kinder haben wollten? Das erscheint auf den ersten Blick aus der Sicht der Frauen auch wünschenswert. Wenn Sie das Beispiel auf die Spitze treiben: Nehmen Sie 1.000 Männer und 1.000 Frauen. Jetzt wollen diese 1000 Frauen alle nur noch mit einem einzigen bestimmen Alpha-Männchen Kinder haben. Jetzt zeigt sich folgendes Problem sehr klar: Diese 1.000 Frauen können nur noch auf die Ressourcen eines einzigen Mannes zur Aufzucht ihrer Kinder zurückgreifen, da die anderen 999 naheliegender Weise kein großes Interesse verspüren werden, diese zu unterstützen – so wie sich eine Frau in erster Linie erst um ihr eigenes Kind kümmern wird.
Wenn man sich vergegenwärtigt, unter welchem Druck alleinerziehende Mütter und ihre Kinder, welche keine oder kaum Unterstützung vom Vater des Kindes erhalten stehen und welche Nachteile das für diese Kinder zur Folge hat, ist es doch klar, wieso Frauen sich dreimal überlegen, ob sie nun noch Kinder von weiteren Männer wollen und damit das heile Vater-Mutter-Kind-Modell kippen. In einer Welt mit freier Wahl der persönlichen Lebensplanung stellte sich daher die Frage, wie man jene Männer, welche ihre Gene nicht weitergegeben haben, zu Investitionen in fremde Gene motivieren will?
Ist es daher nicht denkbar, dass female choice einfach deshalb nicht so gelebt wird, wie Sie schreiben, weil sonst unsere moderne Zivilisation schlicht nicht möglich wäre – so wie es möglicherweise „natürlicher“ wäre, wenn die Stärkeren die Schwächeren nach eigenem Willen umbringen, dies aber in einer Gesellschaft, welche sich am Recht, welches zweifellos Voraussetzung für den schier unglaublichen Fortschritt an Wohlstand ist, orientiert? Zum Beispiel mag es ebenfalls unnatürlich sein, Belohnungen, nach welchen wir gieren, aufzuschieben, uns diesem Appetit nicht hinzugeben und dadurch über steinzeitliche Verhältnisse hinauszuwachsen.
Beste Grüße
(Name bekannt)
(Im Folgenden steht der Begriff der „Fortpflanzung“ stets in Anführungszeichen, weil er sprachlich falsch ist, es dafür aber keinen unkontaminierten anderen Begriff gibt.)
Der Reihe nach:
1. „Zwar denke ich, dass es so etwas wie eine ‚female choice‘ tatsächlich gibt und dass sie auch ausgeübt wird – jedoch grundsätzlich nur (einmalig), so lange es nicht um Fortpflanzung geht.“
Warum sollte die Female choice ausgerechnet aussetzen, wenn es um „Fortpflanzung“ geht, wo sie doch allein der „Fortpflanzung“ dient? Es zeigt sich an dieser Stelle, wie das Patriarchat die Evolution um 180° verdreht, auf den Kopf stellt. Auch mein Leser denkt patriarchal. Im Patriarchat soll EIN Mann an die Frau gebunden werden, damit er sie ernährt. Da will ein Mann nicht allein sein, und Kinder sein Eigen nennen. Da will ein Vater, dass sein Sohn (mindestens) eine Frau an sich bindet, um noch über seine Enkelkinder verfügen zu können, sogar um ihre Genetik zu kontrollieren, damit sie so werden, wie er sie will. Der soziale Status ist dabei wichtiger als körperliche oder seelische Eigenschaften. Aber er macht die Rechnung ohne die Natur, die kein Züchter nachahmen oder sogar übertrumpfen kann. Zucht richtet genetischen und phänotypischen Schaden an, die Female choice verhindert ihn weitgehend.
Es geht bei JEDER sexuellen Verbindung immer auch mehr oder weniger um die „Fortpflanzung“, dagegen kann sich niemand wehren, und sei es im Patriarchat nur, die freie Fortpflanzung zu unterdrücken. Ohne sexuelle „Fortpflanzung“ gäbe es die Lust nicht. Frauen werden so aber nicht immer schwanger, weil die sog. Cryptic female choice es mitunter auch verhindert. Die Female choice setzt nicht aus, sobald eine Frau einfach nur Lust empfindet, ganz im Gegenteil. Und ob sie doch schwanger wird, hängt von vielen Faktoren ab, die erst während des Verkehrs zu wirken beginnen. Sie wählt auch in den Zeiten, wo sie nicht schwanger werden kann, weil sie den fruchtbaren Zeitraum nicht genau kennt.
Als Mann wissen Sie es vielleicht nicht, und glauben es daher nicht, aber wir Frauen prüfen genau, mehr oder weniger bewusst, aber immer, das ist die ungeschminkte Wahrheit. Im Patriarchat sind nur die Gedanken frei.
Die Sexualität ist ein Verhalten, deren ursprünglicher Sinn evolutionär weiterentwickelt auch dem Lustgewinn dient und dienen muss. Dies war offensichtlich notwendig geworden bei den Arten, die zur Reflexion fähig sind. Ohne den Lustgewinn würden sie viel seltener oder gar nicht Sex zur „Fortpflanzung“ eingehen wollen, denn es handelt sich bei Sex um einen Eingriff in die körperliche Integrität. Frauen können ohne Lust keinen Sex haben, ohne wund oder krank zu werden.
In einer Gemeinschaft, die durch die gemeinsame Sorge für die Kinder zusammengehalten wird, und nicht durch die Vormacht eines Geschlechts, wie es im Patriarchat der Fall ist, hat Sex natürlich keine soziale Funktion, wie sie mein Leser möglicherweise auch im Hinterkopf hat. Wo der Vater keine Bedeutung hat, wo er die Mutter nicht versorgen muss, gibt es keinerlei Veranlassung, ihn mit Sex zu binden, um nicht zu sagen, einzukaufen. Tatsächlich ist die Female choice nur frei ausgeübt, wenn keine Absicht mit dem Sex verbunden ist, so wie auch die Evolution absichtslos ist. Im Patriarchat darf die Frau einmal wählen; nach Ende der Verliebtheit ist mit dem Sex stets etwas Materielles verbunden. Da lügen sich Männer etwas in die Tasche, wenn sie glauben, geliebt zu werden, nur weil ihre Partnerin noch Sex mit ihnen hat. Patriarchale Sexualität ist von Würdelosigkeit geprägt, und die betrifft auch die Männer. Liebe ist etwas anderes.
2. „Denn es macht die Sache nun mal vielfach komplizierter, wenn eine Frau Kinder von mehreren Männern hat; die jeweiligen Partner werden, begrenzte Ressourcen vorausgesetzt, doch ein immanentes Interesse daran haben, dass primär der von ihm abstammende Nachwuchs durch ihn versorgt wird.“
Seit mindestens 3 Mio. Jahren lebten die Vorfahren von Homo Sapiens in Matrifokalität. Bis heute ist sie unser angeborenes Sozialverhalten. Und weil es in der Tat so kompliziert gewesen wäre, ist der biologische Vater weder bedeutsam noch der Ernährer gewesen. Die Länge der Kindheit ist der Schlüssel zum Verständnis, warum die menschliche Vaterschaft und die Female choice, die lebenslang erhalten bleibt, nicht kompatibel sind. Übrigens auch unfassbar viele andere Arten, unter denen auch viele Säugetiere sind, kennen keinen ernährenden Vater.
Der Vater hat nicht einmal heute, unter patriarchalen Bedingungen, ein unbedingtes Interesse, seine Nachkommen zu ernähren, das ihn qualitativ und quantitativ mit beispielsweise den Singvogelvätern auf eine Stufe stellen würde. Tatsächlich ernähren Väter im Patriarchat ihre Kinder nicht selbstlos, wie der Vogelvater, sondern, weil sie sonst das Risiko führten, in der Einsamkeit zu enden, aber unbedingt auch, um Macht über sie und ihre Mutter ausüben zu können.
Er weiß auch häufig nicht einmal, dass er Vater ist; er hatte Sex und ging seiner Wege. Allein geschriebene und ungeschriebene Gesetze bringen einen Mann dazu, sich darum zu kümmern, ob „die Nacht“ Konsequenzen hatte. Oft aber interessiert es ihn nicht einmal.
3. „Würde female choice dann bedeuten, dass bspw. bei einer Gruppe aus 20 Männer und 20 Frauen, diese Frauen jeweils nur mit zB 2 bestimmten Männern Kinder haben wollten? …“
Dieses Szenario ist Stoff fürs Privatfernsehen, wo sich die Frauen dann um diese Männer streiten würden, weil alle patriarchalen Frauen doch nur von der Romantik der Kleinfamilie träumen (die es gar nicht gibt), um dann irgendwann aufzuwachen und festzustellen, dass der Märchenprinz nur ein Frosch war. Eine initial durch die Female choice hergestellte Polygamie hat geringe Halbwertszeit.
In polygamen Kulturen, wo immer die Männer wählen und viele Frauen haben, gibt es ein großes Problem mit unverpaarten Männern, was noch durch vor- und nachgeburtlichen Gynozid verstärkt wird.
In der Natur gibt es keine Gruppe von gleich viel Männern und Frauen. Wir haben es natürlicherweise mit vielen – nicht nur zwei – mütterlichen Sippen zu tun, die auch nicht in gleicher Personenzahl aufeinander zugehen. In jeder Sippe gibt es Frauen und Mütter, die aktuell kein Interesse an Sex haben. Gleiches gilt für Männer, wobei das sicherlich weniger sind, auch weil sie nicht hormonell auf Babys eingestellt sind. Female choice bedeutet vor allem nicht die einmalige Wahl eines Partners, mit dem eine Frau fortan Sex hat, sondern die lebenslange Wahl immer neuer Sexualpartner! Was ein „Alpha-Mann“ ist, ist nicht von vornherein in Beton gegossen, er ist im Grunde eine patriarchale Erfindung, ein von Männern selbstgeschaffenes Problem. Das bedeutet, dass es wahrscheinlich ist, dass auch scheinbare „Beta-Männer“ irgendwann einmal „an der Reihe sind“ und der „Alpha-Mann“ „absteigt“. Jede Frau hat andere Vorlieben, die insbesondere mit ihrer Genetik und ihrem Hormonstatus zusammenhängen und erst in zweiter Linie von kulturellen Einflüssen abhängen. Es ist eben nicht immer nur der „kernige Handwerker“, sondern immer wieder auch der (im Auge der Betrachterin) schöne und vor allem charmante, freundliche Mann, gern auch der intelligente.
Überlegen wir uns im Gegenzug dazu, was es für eine Frau bedeutet, die im Patriarchat einen „Beta-Mann“ heiraten muss und nur von ihm Kinder haben darf. Mindestens die Sexualität dürfte von Beginn an gestört sein, mit verheerenden Folgen für die ganze Familie. Es ist unwahrscheinlich, dass sich unter solchen Bedingungen etwas an ihrer Einstellung zu ihm ändert, selbst wenn sie die berühmtesten Sexual- und PaartherapeutInnen bemüht. Es ist ein Irrtum, dass die Versorgung der „Beta-Männer“ im Patriarchat mit einer ihnen gehörenden Frau Gewalt verhindert. Wir können m. E. sogar davon ausgehen, dass der Großteil der Gewalt genau darauf zurückzuführen ist. Aus lauter Angst vor Incels die Female choice als Bedrohung darzustellen, zeugt von grundlegendem Unverständnis der Zusammenhänge.
Dass ein einziger Mann Vater aller Kinder ist, wie es im o.g. Szenario passieren könnte, entspricht auch nicht der Logik der Entstehung der Sexualität im Laufe der Evolution. Nicht einmal bei den berühmten Platzhirschen ist das gegeben. Genau dies passiert aber im Grunde im Patriarchat, wo eine Frau nur Kinder von EINEM Mann haben DARF und auch Polygamie üblich ist. Es zeigt sich in jeder Familie aufs Neue, dass der Vater schon mit einem einzigen Kind, für das er Verantwortung tragen muss, überfordert ist. Entweder er lebt diese Überforderung mit entsprechenden Folgen für die Familie und ihn selbst, wie der häuslichen Gewalt und Stresserkrankungen, oder er entzieht sich vollständig und lässt die Mutter mit ihrem Kind/ern allein, die im Patriarchat auch MIT einem Mann überfordert ist, fehlt ihr ja ihre mütterliche Sippe, ein riesiger Personenkreis. Meistens trägt der Vater sogar noch zur Überforderung der Mutter bei, indem er (und die Schwiegereltern) Gewalt gegen sie ausüben, sich von ihr bemuttern lässt (lassen), von der Überforderung durch die patriarchale Kultur, die noch weitere Anforderungen an Mütter stellt, einmal ganz abgesehen.
4. „Wenn man sich vergegenwärtigt, unter welchem Druck alleinerziehende Mütter und ihre Kinder, welche keine oder kaum Unterstützung vom Vater des Kindes erhalten stehen und welche Nachteile das für diese Kinder zur Folge hat, ist es doch klar, wieso Frauen sich dreimal überlegen, ob sie nun noch Kinder von weiteren Männer wollen und damit das heile Vater-Mutter-Kind-Modell kippen.“
Viele Mütter in unserer Gesellschaft bereuen ihre Mutterschaft: #regrettingmotherhood ist ein sehr erfolgreicher Hashtag. Sie werden wohl mehrheitlich verhindern, noch weitere Kinder von anderen Männern zu bekommen. Doch mit ihrer puren Masse haben die alleinerziehenden Mütter längst „das heile Vater-Mutter-Kind-Modell“ gekippt. Leider unterdrückt eine Frau mit diesen Überlegungen ihre Female choice nun selbst, eine in der Natur völlig absurde Situation, zu der sie systematisch genötigt wird. Zwar hat dies auf einer überbevölkerten Erde zeitweilig einen positiven Effekt, langfristig und global stürbe die Menschheit aber aus. Eine Mutter hat das Menschenrecht nicht nur auf freie Sexualität, sondern auch auf Unterstützung, aber eben nicht von einem egoistischen Vater, sondern von einer Sippe, die jedes ihrer Kinder, egal von welchem Vater, als neuen, „wertvollen“ Menschen aufnimmt und bedingungslos mitversorgt.
5. „In einer Welt mit freier Wahl der persönlichen Lebensplanung stellte sich daher die Frage, wie man jene Männer, welche ihre Gene nicht weitergegeben haben, zu Investitionen in fremde Gene motivieren will?“
Die zahllosen Kuckucksväter beweisen, dass männliches Kümmern um Kinder nicht an die genetische Vaterschaft gekoppelt ist. Natürlich erwachsen Männern daraus immer Vorteile, ob Patriarchat oder nicht. Es stimmt auch, dass sich Männer schwertun, zu akzeptieren, dass eine Frau bereits Kinder von einem anderen Mann hat. Dies ist dem Patriarchat geschuldet, das Kinder als eine geldwerte Investition betrachtet. Es müssen auch die eigenen Gene sein, weil diese von jedem Mann grundsätzlich als die besten angesehen werden. Damit beweist sich der Mann als Züchter bzw. hier zeigt sich der Ursprung des Patriarchats in der Viehzucht. In seiner ja auch notwendigen Selbstüberschätzung – ohne die er es nicht einmal probieren würde, eine Frau anzusprechen – belehrt ihn die Female choice mit ihren komplexen Kriterien eines Besseren. Er ist nur in ganz wenigen Momenten der Beste.
In unserer individualisierten Risikogesellschaft (nach Ulrich Beck) ist Motivation genug geworden, dass ein Mann sich sicher sein kann, wenn er Kinder gut behandelt, dass diese gerne eine Beziehung zu ihm aufbauen und aufrechterhalten. Jedoch kann er diese jederzeit verspielen, so dass er sich hüten sollte, Forderungen zu stellen und Rechte einzuklagen.
Unter gelebter Matrifokalität kümmern sich die Brüder der Mutter um ihre Neffen und Nichten. Für sie besteht eigentlich der unschlagbare Vorteil darin, dass sie zu 100% sicher gehen können, dass sie in Gene investieren, die sie mit der Schwester und Großmutter teilen, also damit auch ihre eigenen. Jedoch, der matrifokale Mann denkt gar nicht über seine Gene nach, das tut nur der Patriarch. Das soziale Miteinander von Homo Sapiens dient stets der mütterlichen Linie, weil Mütter auf Verlässlichkeit angewiesen sind, Brüder können das viel besser gewährleisten als Väter, ohne jedes Risiko.
6. „Ist es daher nicht denkbar, dass female choice einfach deshalb nicht so gelebt wird, wie Sie schreiben, weil sonst unsere moderne Zivilisation schlicht nicht möglich wäre“
Zu zeigen, wie sehr das Patriarchat mit all seinen „Errungenschaften“ von der Unterdrückung der Female choice abhängt, ist seit nun mehr über 10 Jahren das elementare Anliegen der Patriarchatsforschung. Dass unsere moderne Zivilisation in jedem Fall ein schützenswertes Gut ist, wage ich zu bezweifeln angesichts der existenziellen Bedrohung, in die uns das Patriarchat getrieben hat und des Leides, dass sie erzeugt. Zivilisation (nach Marija Gimbutas) ist jedoch nicht an Patriarchat gebunden, sondern allein an Kooperation und Kreativität. Matrifokale Siedlungen wie das jungsteinzeitliche Çatal Höyük oder die heute lebenden Mosuo beweisen, dass ein hohes Maß an Kultur und Glück überhaupt nicht an Vaterschaft und väterliche Macht geknüpft sind.
7. „so wie es möglicherweise ’natürlicher‘ wäre, wenn die Stärkeren die Schwächeren nach eigenem Willen umbringen, dies aber in einer Gesellschaft, welche sich am Recht, welches zweifellos Voraussetzung für den schier unglaublichen Fortschritt an Wohlstand ist, orientiert? Zum Beispiel mag es ebenfalls unnatürlich sein, Belohnungen, nach welchen wir gieren, aufzuschieben, uns diesem Appetit nicht hinzugeben und dadurch über steinzeitliche Verhältnisse hinauszuwachsen.“
Es wäre natürlich nicht „natürlicher“, wenn die Stärkeren die Schwächeren nach eigenem Willen umbringen, es entspricht aber in der Tat der inneren Logik des Patriarchats, so gesehen hat es mein Leser richtig erkannt. Eine solche sozialdarwinistische Verhaltensprämisse entspricht nicht unserem angeborenen Sozialverhalten, sondern ist durch und durch patriarchale Viehzüchterideologie. Die Sexuelle Selektion, die Female choice, ist das oberste Naturgesetz allen sich sexuell „fortpflanzenden“ Lebens. Die Mehrung von Besitz ist nicht der Antrieb der Evolution. Es ist auch eine Irrlehre, dass Männer den Besitz erfanden, um sexuell interessanter zu erscheinen. Selbst Vogelmännchen, die eine schöne Hütte bauen, um ein Weibchen zu beeindrucken, sammeln nicht viele Hütten an, sondern bauen ständig neue. Es geht darum zu zeigen, was mann ist und nicht, was mann hat.
Im mütterlichen Sozialverband von Homo Sapiens werden ALLE Kinder geliebt und versorgt. Das Wesen der Mütterlichkeit ist die bedingungslose Liebe. Wir sehen Affenmütter, die tagelang ein totes Kind herumtragen oder Elefantenmütter, die tagelang versuchen, ein totes Kind zum Aufstehen zu bewegen. Wir brauchen nicht zu den Tieren blicken; auf jeder Kinderstation wird der Beweis geführt, wie sehr Mütter sich um ihr krankes Kind sorgen und alles in Bewegung setzen, damit es am Leben bleibt. Erst wenn ein Sozialverband in ein lebensfeindliches Umfeld gelangt, müssen Mütter schwere Entscheidungen treffen. Das hat die Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy für unsere Spezies sehr breit ausgeführt. Gleichzeitig kennen wir die römische Sitte, die Vätern erlaubte, kranke Kinder auszusetzen, und Rechtsradikale, die die Abtreibung und Tötung „unwerten“ Lebens fordern und vielfach schon durchgesetzt haben.
Mein Leser glaubt aber leider, so scheint es mir gerade, dass der Mensch der Steinzeit zur Entwicklung unfähig gewesen sei. Die Steinzeit als hoffnungslos rückständig, als aus ihrem kulturellen Stupor durch das Patriarchat zu errettende niedere Stufe der Menschheit; hier haben wir es mit der stereotypen Falschbewertung der Steinzeit zu tun. Tatsächlich war sie enorm innovativ und kreativ. Die Höhlenmalereien und die sesshafte Landwirtschaft wurden aus der Matrifokalität der Altsteinzeit hervorgebracht, ebenso wichtige Erfindungen wie Weben, Flechten, Kleidung, Töpferei und Hausbau, nicht ohne diese Dinge aufwändig zu verzieren oder mit Symbolen zu versehen. Selbst die Verarbeitung von Metallen geht auf steinzeitliche Ursprünge zurück, bis…bis mächtige Männer diese Erfindungen in die Finger bekamen und für ihre Zwecke missbrauchten und weiterentwickelten, so aber gleichzeitig die Chancen für eine friedliche Weiterentwicklung ausbremsten. Wo wären wir heute ohne Patriarchat? Sicherlich hätten wir keine Überbevölkerung, keine Umweltverschmutzung, keine Sklaverei, keinen Stress, keinen Krieg etc. etc.. Aber sicherlich hätte die Medizin ein hohes Maß an Fortschritt erreicht, ohne den Umweg über menschenverachtende Geburts“heil“kunde und Menschen- und Tierversuche.
Fazit
Mein Leser liefert mit seinen Überlegungen unbeabsichtigt genau die Argumente, die gegen die Vaterschaft als evolutionsbiologisch sinnvolles oder alternatives Konzept sprechen. Dennoch gelingt ihm nicht der logische Schluss, dass das Patriarchat durch und durch der falsche Film ist. Es ist ihm nicht zu verdenken. Das Patriarchat steckt in uns, physisch verankert in den Gehirn-Synapsen. Sie sind seit der Kindheit in einem Geflecht aus Verdrehungen, Verwirrungen und Glaubenssätzen zu einem scheinbar logischen Gebäude verknäuelt. Jedoch lassen sich mit diesen Synapsen nicht die Probleme erklären, mit denen wir es im Laufe des Lebens zu tun bekommen. Sich den Problemen stellen, bedeutet Kröten zu schlucken. Wer keinen Leidensdruck hat, sieht keine Veranlassung etwas zu ändern.
Das Leid gehört nicht in der Weise zum Leben, wie wir es erleben müssen. Mit diesem Narrativ werden ja gerne alle Probleme marginalisiert. Aber genau da, wo es hakt, sollten wir nicht flapsig drüber hinweggehen, sondern beginnen zu zweifeln, dass das alles so seine Richtigkeit hat. Hier sind die Stellen, wo patriarchale Logik versagt. Im Grunde versucht mein Leser zu verstehen. Aber gewisse Schlaglöcher haben vom eigentlich kerzengeraden Weg abgelenkt. Die Female choice zu verstehen wird einfach, wenn wir wagen, sie konsequent zu denken: Es ist die Frau, die wählt und abwählt, immer und immer wieder, und nicht nur bei der „Fortpflanzung“ und auch nicht nur außerhalb der „Fortpflanzung“.
Diesem, meinem Leser, und Ihnen allen sende ich freundliche Grüße.
Siehe auch: Antwort auf Meike Stoverocks „Female Choice“.