Auch in Zeiten des Internet sind Zeitschriften das beste Mittel, auf dem Laufenden zu bleiben. Wer wie ich sogar Abonnentin ist, kennt wahrscheinlich auch die Stapel mit Heften, die in irgendwelchen Ecken vor sich hin wachsen. Meine besten Absichten, sie chronologisch in Schubern zu archivieren, scheitern schließlich am Platzmangel im Schrank. Gelegentlich ist meine Schmerzgrenze erreicht und in einer Hauruck-Aktion schneide ich alle mir wichtigen Artikel heraus und der Rest landet im Altpapier. Dabei entstehen wieder Stapel, aber nun nach Themen sortiert und abgeheftet, und der Papierberg schrumpft auf etwa ein Zwanzigstel seiner ursprünglichen Größe.
Jetzt habe ich wieder solch eine große Aktion hinter mir und diesmal war es sogar sehr inspirierend. Denn dabei fand ich den Artikel „Zum Jagen geboren“ von Kate Wong wieder, der im „Spektrum der Wissenschaft“, Heft 11/2014, abgedruckt war und den ich inzwischen längst vergessen hatte. Nicht dass ich den Artikel für besonders wertvoll hielte – denn das Thema ist für mich ein echtes Reizthema – aber kurz zuvor hatte ich einen ganz ähnlich klingenden Artikel abgeheftet, der – so will es der Zufall – in Heft 01/2020, also erst vor wenigen Wochen, veröffentlicht wurde, und zwar „Zum Laufen geboren“ von Herman Pontzer.
Gut, dass ich so viele Jahre sozusagen aktionslos gesammelt hatte, denn sonst hätte ich diesen Zusammenhang gar nicht mehr herstellen können! Beide Artikel nebeneinander gelegt fragte ich mich: ja, was denn nun, Jagen oder Laufen? Welche neuen Erkenntnisse hat es in diesen etwas mehr als 5 Jahren gegeben, dass zwei so unterschiedliche Aussagen zustande gekommen sind? Gleich nach meiner Aktion begann ich erneut zu lesen.
Kate Wong betont das Jagen als Motor zur Menschwerdung, oder anders gesagt, sie suggeriert, dass der Mann die treibende Kraft, die Krone menschlicher Körperkraft und der Intelligenz sei. Die Wissenschaftsjournalistin liefert tatsächlich eher unfreiwillig den Beleg gleich mit, denn der Artikel ist sozusagen das Sprachrohr für verschiedene Wissenschaftler, die glauben zu wissen, dass unser Skelett dazu gebaut sei, einen Speer nach einer Jagdbeute zu werfen. Und sie triumphiert:
“Sicherlich war solch ein Speer (ein Holzstecken mit einer Spitze aus Vulkanglas; meine Anmerk.) damals der Gipfel der Technik.“[1]
Ich kann gar nicht werfen, ich bin richtig schlecht darin. Weil es bei den Bundesjugendspielen nur Ballwerfen und Kugelstoßen aber kein Hammerwerfen gab, bekam ich regelmäßig nur eine Siegerurkunde. Entweder ich bin zum Werfen nicht geboren, weil ich eine Frau bin, oder an der Theorie ist etwas falsch. Wäre ich deshalb in der Steinzeit verhungert? Da ich viele Frauen kenne, die werfen können, und auch Männer, die nicht werfen können, muss die Theorie also falsch sein.
„Laut Daniel Liebermann von der Harvard University in Cambridge (Massachusetts) und Dennis Bramble von der University of Utah in Salt Lake City könnten frühe Menschen ihre Beute bis zur völligen Erschöpfung getrieben haben“[2], schreibt sie und bemüht Nina Jablonski von der Pennsylvania State University für die Feststellung, dass die dabei entstehende Wärme von einem nackten Körper besser abgestrahlt würde,
„doch all diese Anpassungen hätten den frühen Menschen bei der Jagd nicht viel gebracht, wenn ihm Möglichkeiten fehlten, das gehetzte Tier am Ende zu erlegen – und das vorzugsweise aus einiger Distanz, also am besten indem man es mit einem geworfenen schweren oder scharfen Gegenstand trifft.“[3]
Auf Deutsch gesagt: wie schön, dass die Evolution vor dem Loslaufen noch schnell das Werfen und Herstellen eines Speeres selektiert hatte, denn sonst hätten die frühen Menschen das gehetzte Tier am Ende doch laufen lassen müssen.
Spaß beiseite. Eigentlich macht das Werfen das Laufen fast überflüssig, es muss jedoch gekonnt sein und das braucht Wurftalent und sehr langes Training, denn ein Jäger muss ja nicht nur weit werfen sondern auch zielen können. Ist das Tier aber schon lahm gehetzt, reicht einfaches Zustechen völlig aus. Nichts davon im Artikel.
Ein weiterer Gewährsmann für die These ist Neil T. Roach von der George Washington University, der als Triebfeder hinter dem evolutionären Umbau der Schulter „Selektionskräfte, die auf die Fähigkeit zu werfen gerichtet waren“ vermutet, denn „mit solchen Schultern und Armen konnten unsere Vorfahren schlechter Bäume erklimmen.“[4] Solche Selektionskräfte hatte Darwin völlig zurecht noch nicht vermutet und ich möchte schon einmal sehen, wie ein Menschenaffe die sog. Silence-Route bewältigen würde, die unter Kletterern als schwierigste der Welt gilt, oder all die anderen Herausforderungen, wo noch nie ein Menschenaffe gesichtet wurde. Dagegen sind Bäume doch ein Witz, um nicht zu sagen: kinderleicht.
Kate Wong setzt noch einen drauf: Der Anthropologe Travis Pickering glaube, dass die Jagd zu stärkerer „sozialer Untergliederung“ geführt habe, also zu jagenden Männern und sammelnden Frauen, und sie konstatiert, dass uns heute „solch eine Verteilung der Verantwortlichkeiten antiquiert vorkommen“ möge, sie sich damals aber als „Organisationsform mit hohem Anpassungswert“ erwiesen hätte.[5]
Komisch nur, dass Frauen trotzdem das Werfen gelernt haben. Was aber eigentlich hinter dieser Aussage steckt, wird erst auf den zweiten Blick deutlich. Denn Arbeitsteilung ist nicht automatisch soziale Untergliederung. Soziale Untergliederung ist vor allem Hierarchie. Uns wird hier die Überlegenheit des Mannes über die Frau untergejubelt, also ein Patriarchat, das mit der Erfindung des Jagens daher gekommen sei. Die Krönung davon ist Pickerings Vermutung, dass Jagen die Aggressivität gesenkt habe und zu mehr Selbstbeherrschung verholfen hätte! Er begründet das mit dem kühlen Kopf und mit der Besonnenheit, welche ein Jäger bewahren müsse. Er müsse viel stärker seinen Verstand einsetzen als ein jagender Menschenaffe. Das allerdings können wir im Fußballstadion, auf der Autobahn, in Nord-Korea, Russland, der Türkei, den USA etc. nachprüfen. So weit, so schlecht.